Joseph-Höffner-Gesellschaft

13. Deutsch-Amerikanisches Kolloquium in Wildbad Kreuth

 

 

Vom 18. bis 23. Juli 2014 fand in Wildbad Kreuth das 13. Deutsch-Amerikanische Kolloquium statt. Das von unserem Mitglied Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Anton Rauscher, dem langjährigen Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) Mönchengladbach, initiierte Treffen fand erstmals 1990 in Augsburg statt. Die amerikanische Seite wurde von Prof. Dr. Jude Dougherty, Dean of Philosophy der Catholic University in Washington vertreten. Sein heutiger Nachfolger ist Prof. William A. Frank, University of Dallas. Die Treffen finden im zweijährigen Rhythmus jeweils in den USA und Deutschland statt. Diese Symposien stellen eine in dieser Form einzigartige gemeinsame wissenschaftliche Tagung zwischen amerikanischen (USA / Kanada) und deutschen Fachvertretern der katholischen Soziallehre dar.

 

Unter den elf deutschsprachigen Referenten wirkten sechs Mitglieder der Joseph-Höffner-Gesellschaft mit: Prof. Dr. Anton Rauscher (Augsburg), Prof. Dr. Lothar Roos (Bonn), Prof. Dr. Elmar Nass (Fürth), Prof. Dr. Christian Müller (Münster), Prof. Dr. Manfred Spieker (Osnabrück), Dr. Andreas Püttmann (Bonn). Unter den Teilnehmern befand sich auch der australische Kurienkardinal George Pell. Sein Vortrag über „Subsidiarität und organisatorische Reformen in der katholischen Kirche“ ist in Der Tagespost v. 5. August 2014 (Nr. 92), S. 6f. veröffentlicht. Der Tagungsband wird wie auch die bisherigen Kolloquien in der Reihe „Soziale Orientierung“ im Verlag Duncker & Humblot erscheinen.

 

Im Folgenden dokumentieren wir den Bericht über die Tagung, verfasst von unserem Mitglied Dr. Matthias Bürgel, veröffentlicht in Der Tagespost v. 29. Juli 2014 (Nr. 89), S. 3.

 

Unter dem Titel „Besinnung auf das Subsidiaritätsprinzip“ fand in der vergangenen Woche in Wildbad Kreuth zum nunmehr bereits 13. Mal das „Deutsch-Amerikanische Kolloquium“ statt. Organisiert wurde die in Zusammenarbeit mit der Hanns-Seidel-Stiftung durchgeführte Veranstaltung, an der auch George Kardinal Pell, Präfekt des neu gegründeten vatikanischen Wirtschaftssekretariats, teilnahm, von Anton Rauscher, dem langjährigen Leiter der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, und William A. Frank, Professor für Philosophie an der University of Dallas.

Dass diese eingeforderte Besinnung aufgrund aktueller politischer Tendenzen sowohl in Deutschland und Europa als auch in den USA vielleicht heute dringend notwendiger ist als je zuvor, ging dabei durchgängig als Tenor aus den das Thema von den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fachperspektiven aus beleuchtenden Vorträge hervor.

Das von Gustav Gundlach ausformulierte Subsidiaritätsprinzip wurde von Papst Pius XI. unverändert in das 1931 veröffentlichten Rundschreiben Quadragesimo anno übernommen: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen“, zitierte Rauscher das 2004 erschienene Kompendium der Soziallehre der Kirche. Genau dieser Gerechtigkeitsverstoß sei aber in der Realität oftmals auszumachen, wenn die größere Gemeinschaft sich nach erteilter „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht auf das Getane beschränke und wieder zurückziehe und ihren Aufgabenbereich somit faktisch erweitere.

Dieses Grundproblem, das Subsidiaritätsprinzip auch konkret, gerade auf größere Gemeinschaften bezogen, anzuwenden und dabei die kleineren Einheiten zu schützen, beschrieb Klaus Stüwe, Professor für Politische Systemlehre und Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, anhand des Fallbeispiels der Umsetzung der EU-Verträge. Obwohl die Subsidiarität durch diese als zentrales Grundprinzip verankert sei, bleibe seine Umsetzung oft wenig konkret: Unionsorgane wie Mitgliedsstaaten beschränkten sich häufig auf pauschale Verweise, während der Europäische Gerichtshof überwiegend integrationsmehrend wirke, die nationalen und regionalen Parlamente aber mit der dieser Tendenz im Vertrag von Lissabon als Aufgabe entgegengesetzten Subsidiaritätskontrolle strukturell überlastet seien. An der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten müsse somit weiter gearbeitet werden.

Letztlich bestätigt wurden Stüwes Ausführungen durch den Vortrag von Markus Ferber, MdEP, der darauf hinwies, dass es, bei aller berechtigter Kritik an Überregulierungen durch die EU, oft genug die nationalen Parlamente selbst seien, die eigentlich in ihren Kompetenzbereich fallende Fragestellungen nach Brüssel delegierten und somit gegen das Subsidiaritätsprinzip verstießen.

Angesicht dieser die europäische Politik belastenden Probleme, stimmte der Rückblick auf den Weg des Kontinents im vergangenen Jahrhundert durch Jürgen Aretz, Staatssekretär a. D., hoffnungsvoll: Gewiss gäbe es, neben der schwierigen Kompetenzverteilungsfrage, ärgerliche Nebenerscheinungen, wie das bekannte Ausufern der Brüsseler Bürokratie oder die nur noch schwer zu rechtfertigenden Gehälter und Arbeitsbedingungen der Kommission. Dadurch werde das historische Ergebnis der jahrzehntelangen Bestrebungen der europäischen Staaten, in seinen Fundamenten angelegt durch die großen Politikerpersönlichkeiten der Nachkriegsjahre Schuman, Monnet, Adenauer und de Gasperi, allesamt praktizierende Katholiken, der Union aber keineswegs beeinträchtigt: „Krieg ist innerhalb der EU undenkbar geworden.“

Dass Überregulierungen seitens zentralistisch agierender Einheiten zudem kein rein europäisches Problem sind, demonstrierten Richard J. Dougherty, Professor für Politikwissenschaft der University of Dallas und Ronald J. Pestritto, Inhaber des Charles und Licia Shipley-Lehrstuhls für Amerikanische Verfassung und Dekan der Graduate School of Statemanship, Hillsdale College. Während Dougherty aufzeigte, wie das von den Gründervätern der amerikanischen Verfassung als essentiell angesehene Föderalismusprinzip durch eine Reihe von Urteilen des Supreme Courts seit der New Deal-Ära, die den Bundesbehörden immer mehr Autorität einräumten, nach und nach ausgehöhlt wurde, behandelte Pestritto die, ebenfalls seit den unter Roosevelt in die Wege geleiteten Veränderungen voranschreitende, Entwicklung, bürokratische Institutionen mit maßgeblicher Regierungsgewalt auszustatten. Dies habe in den USA zu einem aktuell herrschenden „administrative state“ geführt, einem Verwaltungsstaat, in dem die Bundeskommissionen jurisdiktionell durch die Entscheidungen des Supreme Courts befähigt würden, die Grenzen ihrer eigenen Machtausübung festzulegen. Leidtragende seien entsprechend die kleineren Einheiten, wie auch ein jüngerer Fall, in dem der Oberste Gerichtshof der Bundeskommunikationskommission das Recht zugestand, die Landnutzungsrechte der staatlichen und lokalen Regierungen in Texas zu limitieren, belegt habe. Dies stelle einen eindeutigen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip dar.

Auch Jeffrey J. Langan, Rom, betonte die Notwendigkeit von Rahmenveränderungen im amerikanischen Politikwesen, die er jedoch auf das Wirtschaftssystem bezog: Hier sei es beizeiten versäumt worden, das Gesetz aktualisierende Regulierungen, welche der Unterhöhlung desselben aus materieller Gewinnsucht vorgebeugt hätten, vorzunehmen. Eine Neuformulierung der die moralische Bedeutung des Staates als die Subsidiaritätsbedingungen schaffende Instanz hervorhebenden Grundprinzipien sei dringend geboten.

Die moralisch-philosophischen Fundamente der Subsidiaritätsidee rückte ebenfalls John Hittinger Vortrag in den Fokus: Der Professor für Philosophie der University of Dallas zeigte unter Bezug auf Konzeptionen des Heiligen Johannes Paul II. die fundamentale Rolle von Ehe und Familie für die menschliche communio auf: Seien die höheren Werte einer Gesellschaft in der Familie als kleinster Gemeinschaft von Personen, die das Fortbestehen dieser Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht, bereits angelegt, so verweise das mit der Ehe vorgenommene Selbstverschenken und Annahme des Geschenkes des Ehepartners auf die spezifische Würde der menschlichen Person und somit auf eine eben nicht nur auf Effizienz angelegte soziale Struktur.

Letzteres wurde auch von Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, betont und auf Kompetenzübertragungen zu Ungunsten der einzelnen Mitgliedsstaaten innerhalb der EU angewandt: Das Subsidiaritätsprinzip dürfe nicht mit einem Effizienzprinzip verwechselt werden, schließlich solle der untergeordneten Einheit durch das Eingreifen der größeren Entität lediglich ermöglicht werden, „ihre Aufgaben zu erfüllen und letztlich die personalen Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger zu fördern. Die EU ist kein an technischer oder ökonomischer Effizienz ausgerichteter Selbstzweck.“

Dass das Subsidiaritätsprinzip sich von seinem ursprünglichen Wesen her gerade nicht auf am Nutzen orientierte Regularien zur Gesellschaftsordnung beschränkt, wurde durch den Vortrag von Elmar Nass, Professor für Wirtschafts- und Sozialethik der Wilhelm Löhe-Hochschule in Fürth, weiterhin deutlich. Die aus der Verantwortung Gott gegenüber resultierende Wertebasis von Solidarität und Subsidiarität solle daher von Christen ruhig offensiv vertreten werden, schließlich leite sich aus ihnen „unmittelbar unsere Verantwortung gegenüber uns selbst und dem Nächsten ab. Regeln und Ordnung müssen die Übernahme dieser dreifachen Verantwortung ermöglichen.“

Dass eine Unterhöhlung oder gar ein Ausblenden dieses Wertefundamentes letztlich auch schwere Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip selbst ermögliche (im Übrigen insbesondere auch von „unten“, als Flucht der Bürger aus ihrer subsidiären Verantwortung), war die Kernthese der Ausführungen von Lothar Roos, em. Professor für Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologe an der Universität Bonn. Er erinnerte dabei an die Warnung Johannes Paul II., Ideen und Überzeugungen könnten vor den heute herrschenden Grundhaltungen des Agnostizismus und des skeptischen Relativismus leicht zu Machtzwecken missbraucht werden. Dieser Relativismus, von Benedikt XVI. unmissverständlich verurteilt, werde für die vom Subsidiaritätsprinzip geschützte Freiheit der Person dann besonders gefährlich, „wenn er sich mit jenem Kulturimperialismus verbindet, der den Relativismus zu einem für alle geltenden Gesetz machen will.“ Als eindrucksvolle Beispiele dieser den Bürgern aufoktroyierten kulturellen Ideologie nannte Roos die von UNO weltweit durchgeführten Kampagnen zur Empfängnisverhütung, Geburtenkontrolle und zur Durchsetzung eines „Rechts auf Abtreibung“, die embryonale Stammzellforschung durch die EU gegen die Gewissensüberzeugung vieler sowie die von diversen Parlamenten betriebene völlige Gleichstellung der so genannten „Homoehe“ mit dem von der Verfassung geschützten Ehe- und Familienbegriff.

Gerade die hiermit angesprochenen Themen belegen sicherlich, dass die Be- oder Missachtung des Subsidiaritätsprinzips die Rechte des Individuums (sogar bis hin zu die Existenz des menschlichen Lebens als solcher betreffenden Fragen) und die gesellschaftliche Grundordnung in ihren Fundamenten tangiert, weshalb ein zu einer entsprechenden „Besinnung“ anregender Diskurs für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit von eminent aktueller Relevanz erscheint.

Entsprechende Fragestellungen sind durchaus auch für innerkirchliche

Belange von Bedeutung: „Die Kirche, nach ihrer inneren Struktur zugleich sakramental begründete Heilsgemeinschaft wie gesellschaftlich verfasste Rechtsgemeinschaft kann also auch für ihren Binnenbereich ein Sozialprinzip zur Geltung bringen, wenn es die näheren Modalitäten ihrer Dimension als Rechtsgemeinschaft betrifft und ihrer Dimension als Heilsgemeinschaft keinen Abbruch tut“, führte der in Rom und Freiburg lehrende Rechtswissenschaftler Stefan Mückl aus, der gleichzeitig darauf hinwies, dass aus der Applikation des Subsidiaritätsprinzips resultierende Kompetenzregelungen innerhalb der kirchlichen Organisation ohne Auswirkungen auf deren Bestimmung blieben: „Bezugspunkt des Handelns ist stets die Ausrichtung an der Sendung der Kirche: das Evangelium zu verkünden.“

Dieser spezifische, von rein weltlichen Gesellschaftsformen verschiedene Kontext, in dem das Subsidiaritätsprinzip aufgrund des übernatürlichen Charakters der Kirche als solcher bei seiner Anwendung innerhalb kirchlicher Struktur verstanden werden will, stand im Mittelpunkt des von Kardinal Pell gehaltenen Vortrags: „Die Vorschriften einer Zivilgesellschaft lassen sich nicht immer exakt in Vorschriften für eine auf dem Neuen Testament und der Katholischen Tradition gegründeten Kirche übertragen,“ sagte der Dikasteriumspräfekt. Als ein Beispiel hierfür nannte er die unsachgemäße Übertragung von den in der Erklärung bezüglich der Religionsfreiheit im Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 verfochtenen Rechten des Individuums zur freien Religionsausübung auf innerkirchliche Belange: Zu selten hätten die Ortsbischöfe in den vergangenen 50 Jahren Disziplinarmaßnahmen gegen aus diesem Verständnis heraus entstandene Abweichungen in zentralen doktrinalen und moralischen Fragen gegenüber dem Evangelium sowie dem kirchlichen und päpstlichen Lehramt ergriffen.

Ebenfalls erinnerte der Kardinal an die direkte Verantwortung jedes Bischofs vor dem Papst als Felsen der Kirche. Der subsidiäre Gedanke, positiv verstanden als eine Hilfsmöglichkeit und -verpflichtung von Seiten einer höheren Ebene, sei entsprechend in dieser „flachen“ Hierarchie, gerade in Form der den Diözesen dadurch gewährten Eigenständigkeit, verwirklicht, wohingegen eine zuweilen eingeforderte Verstärkung der Autorität nationaler oder kontinentaler Bischofskonferenzen eben dieser spezifischen Verfasstheit der Kirche nicht Rechnung tragen würde: „Im Unterschied zu einem multinationalen Unternehmen hat die Kirche keine nationalen und erst recht keine kontinentalen Generaldirektoren.“

Aber auch vor einem exzessiven Zentralismus in der Römischen Kurie warnte Pell: „Es ist gut und in der Tat notwendig, dass die Anzahl der höheren und berufsmäßigen Funktionäre im Vatikan begrenzt wird.“ Jenseits aller spezifischen Organisationsformen und der angemessenen Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, hob der Kardinal dabei erneut die singuläre Struktur der Kirche, angelegt in ihrem Wesen selbst als Gründung Petri und Pauli, hervor: „Die Rolle des Papsttums als ’letztes Wort’, das die apostolische Tradition schützt, wird immer einzigartig bleiben.“

 

 

 

 

 

(c) 2014 Georg Dietlein